Bernd Leitenbergers Blog

Die 10-Prozent-Rakete

Heute mal wieder ein Raumfahrtthema das keinen richtigen Sinn hat. Es geht nur darum eine Zahl zu erreichen: Kann man eine Rakete so konstruieren, dass sie 10% ihres Start Gewichts als Nutzlast transportiert? 10 Prozent klingen nach nicht viel, sind aber ein ehrgeiziges Ziel. Den höchsten Nutzlastanteil hatte das Space Shuttle mit etwas über 5% – der Orbiter war ja auch die Nutzlast der Rakete. Wenn man ehrlich ist, müsste man davon die Triebwerke und das Schubgerüst wieder abziehen. Trotzdem ist das noch höher als bei jeder anderen Rakete. Die Proton liegt bei 3,0%, die Sojus bei 2,6 %, die Falcon 9 bei 2,4 %. Ariane 5 bei 2,7 %. So rund 3 % sind heute also normal. Da sind 10% eine Nutzlaststeigerung um das dreifache. Die Wahl der Zahl erfolgt aus zwei Gründen. Zum einen weil ich denke man kann es erreichen, wenn auch nicht einfach. Zum andern weil es die erste zweistellige Ziffer ist. Das hat etwas. Ob es klappt weiß ich noch nicht. Während ich den Artikel schreibe mache ich erst die Berechnungen.

Schritt 1: Zusammenstellung existierender Technik

Zuerst schaue ich mal ob ich durch Kombination existierender antriebe auf die Nutzlast komme. Nach der Ziolkowski-Gleichung muss ich dabei auch möglichst hohen spezifischen Impuls und niedriges Leergewicht achten. Viele LOX/LH2-Erststufenantriebe gibt es ja nicht. Dazu sind die meisten nicht ausgelegt ohne Booster abzuheben. Daher setze ich erst mal auf den Shuttle ET, an den man dann die Triebwerke direkt montiert. Der SWLT wiegt voll 748.357 kg, leer 26.460 kg. Drei SSME wiegen  mit Rahmen 12802 kg. Ein SSME hat einen Schub von 1668 kN am Boden und einen spezifischen Impuls von 4437 m/s

Die leistungsfähigste Oberstufe ist die für die Ares V geplante EDS mit einer Startmasse von 278.500 kg bei einem Trockengewicht von 24.200 kg und einem spezifischen Impuls. Für die SLS hat man sich ja umentschieden und weiß noch nicht wie die Stufe wird. Nimmt man noch eine Nutzlastverkleidung von 7% der Nutzlastmasse hinzu (Abwurf nach Brennschluss der ersten Stufe) und eine Zielgeschwindigkeit von 9400 kg so kann man alles zusammenfügen. Es zeigt sich dass man 8 SSME braucht um die Rakete ins All zu befördern. Zielgeschwindigkeit sind 9400 m/s: 7800 m/s + 1600 m/s Aufstiegsverluste. Das Gefährt kommt auf 92,1 t Nutzlast bei  1059 t Startmasse – das ist schon nahe dran.

Rakete: 10 Prozent – Entwurf 1

Startmasse
[kg]
Nutzlast
[kg]
Verkleidung
[kg]
Geschwindigkeit
[m/s]
Verluste
[m/s]
Nutzlastanteil
1158097 92102 7000 7800 1600 7,95 %
Stufe Anzahl Name Vollmasse
[kg]
Leermasse
[kg]
Spez.Impuls (Vakuum)
[m/s]
1 1 782495 60599 4437
2 1 276500 24200 4393

Schritt 2: Wir optimieren

Als nächster Schritt schaue ich ob ich durch Optimierung dem Ziel etwas näher komme. Dabei verwende ich immer noch existierende Technik, nur eben nicht unverändert. In der ersten Stufe ist der Hauptansatzpunkt der Shuttle Tank. Er besteht aus zwei Tanks anstatt einem gewichtsgünstigeren Integraltank. Diese Entscheidung fiel weil an ihm die Booster angebracht sind. So konnte man sie in der Zwischentanksektion fixieren. Lassen wir den Teil weg und fertigen auch den LOX-Tank aus der Legierung 2195. Die NASA tat das nur beim größeren LH2-Tank was diesen immerhin 14% leichter machte. Einsparen könnte man auch die Verbindung zum Orbiter, doch da ich bei den Shuttle-SSME nicht weiß ob da auch die Hilfssysteme (Schwenken, Gasflaschen etc) dabei sind, lasse ich das mal als Reserve für diesen Fall. Die SSME können einen spezifischen Impuls von 4460 im 109% Schublevel erreichen. Beides zusammen hebt die Nutzlast auf 93,5 t an, während das Startgewicht um 6 t sinkt.

Rakete: 10 Prozent – Entwurf 2

Startmasse
[kg]
Nutzlast
[kg]
Verkleidung
[kg]
Geschwindigkeit
[m/s]
Verluste
[m/s]
Nutzlastanteil
1153864 93954 7000 7800 1600 8,14 %
Stufe Anzahl Name Vollmasse
[kg]
Leermasse
[kg]
Spez.Impuls (Vakuum)
[m/s]
1 1 776410 54714 4460
2 1 276500 24200 4393

Die EDS ist ausgelegt für einen Start von 180 t. Unsere Nutzlast macht nur die Hälfte aus. Daher kämen wir auch mit weniger Schub aus. Die SLS Oberstufe soll bei 130 t Nutzlast 129 t Treibstoff aufnehmen und kommt mit 440 kN Schub aus. Rechnet man das auf die Startmasse der EDS hoch so kommt man bei 110 t Nutzlast auf 620 kN Schub. Den liefern 6 RL-10B2. Die sind zwar mit 1872 kg Gewicht nicht viel leichter als das J-2X mit 2472 kg, haben aber einen spezifischen Impuls von 4550 m/s. Sie dürften zudem ein Rollachsenkontrollsystem einsparen. Ich habe daher diese eingesetzt. Die EDS ist für die Motorisierung auch relativ schwer. Nehme ich die Ariane 5 EPC als Vergleich und berücksichtige, dass der 8,2 t schwere Tank aus der alten Legierung 2219 besteht, dann sollte bei Verbund Werkstoffen und Abwurf des Stufenadapters das Trockengewicht auf 15,8 t reduziert werden. Dafür habe ich 2 t Masse für den Stufenadapter bei der Erststufe addiert. Man kommt auf knapp 106 t Nutzlast – das sind bei 1047,6 t Startmasse gerade die 10%.

Rakete: 10 Prozent – Entwurf 3

Startmasse
[kg]
Nutzlast
[kg]
Verkleidung
[kg]
Geschwindigkeit
[m/s]
Verluste
[m/s]
Nutzlastanteil
1160506 105296 7000 7800 1600 9,07 %
Stufe Anzahl Name Vollmasse
[kg]
Leermasse
[kg]
Spez.Impuls (Vakuum)
[m/s]
1 1 778410 56714 4460
2 1 269800 18000 4550

Schritt 3: Bringt es eine Oberstufe

Können wir die Nutzlast erreichen, wenn wir noch eine Stufe hinzunehmen? Das kostet nicht viel Überlegung. Ich habe jeweils einmal die Delta IV DCSS und DEC Centaur genommen. Die Triebwerke wirken bei 100 t Nutzlast unterdimensioniert. Doch man darf nicht vergessen, dass schon fast Orbitalgeschwindigkeit erreicht ist, das ist ein ähnlicher Fall wie beim ATV mit der EPS Stufe. Da wiegt auch der Nutzlaststack 28,7 t bei nur 28,7 kN Schub. Mit 111 t Nutzlast käme die Lösung mit DCSS tatsächlich knapp über die 10% Grenze

Rakete: 10 Prozent – Entwurf 4 (DCSS)

Startmasse
[kg]
Nutzlast
[kg]
Verkleidung
[kg]
Geschwindigkeit
[m/s]
Verluste
[m/s]
Nutzlastanteil
1196817 110897 7000 7800 1600 9,27 /
Stufe Anzahl Name Vollmasse
[kg]
Leermasse
[kg]
Spez.Impuls (Vakuum)
[m/s]
1 1 778410 56714 4460
2 1 269800 18000 4550
3 1 30710 3490 4550

Rakete: 10 Prozent – Entwurf 5 (DEC Centaur)

Startmasse
[kg]
Nutzlast
[kg]
Verkleidung
[kg]
Geschwindigkeit
[m/s]
Verluste
[m/s]
Nutzlastanteil
1187796 109205 7000 7800 1600 9,19 %
Stufe Anzahl Name Vollmasse
[kg]
Leermasse
[kg]
Spez.Impuls (Vakuum)
[m/s]
1 1 778410 56714 4460
2 1 269800 18000 4550
3 1 23381 2531 4417

Schritt 4: Alle Tricks erlaubt

So, nun mal ohne Hemmungen rangegangen. Was wäre möglich wenn man alles einsetzen könnte, was heute technisch denkbar ist? Fangen wir bei den Tanks an. Boeing hat CFK-Tanks entwickelt, die 30% leichter sind als heutige Tanks. Setzen wir diese in beiden Stufen (nun wieder ohne Oberstufe) ein, so werden die Tanks deutlich leichter.

Rakete: 10 Prozent – Entwurf 6

Startmasse
[kg]
Nutzlast
[kg]
Verkleidung
[kg]
Geschwindigkeit
[m/s]
Verluste
[m/s]
Nutzlastanteil
1154423 105391 7000 7800 1600 9,13 %
Stufe Anzahl Name Vollmasse
[kg]
Leermasse
[kg]
Spez.Impuls (Vakuum)
[m/s]
1 1 770032 48039 4460
2 1 272000 19800 4550

In der Oberstufe wäre auch noch eine zweite Option denkbar: Die Nutzung von Fluor. Fluor hat eine höhere Dichte und höheres Verbrennungsverhältnis zu Wasserstoff und liefert einen höheren spezifischen Impuls. Wenn man 100 m/s mehr ansetzt, ein Mischungsverhältnis von 9 zu 1 und wieder die alten Tanks, nun aber mit einer leicht geänderten Tankaufteilung, dann kann man mehr Treibstoff zuladen als bei LOX/LH2. Das zeigt Entwurf 7. Die Tanks sind hier um 1 t schwerer um das Mehrgewicht des Fluors aufzufangen (das entspricht dem Verhältnis bei schweren Flüssigkeiten in Erststufen etwa 1% des Tankinhalts bei großen Tanks). Ich bin wieder auf den Orginalentwurf der EDS zurückgekommen, da wahrscheinlich Composite Tanks nicht kompatibel mit Fluor sind. Man kommt nun auf gut 11 t Nutzlast, knapp 10,6 %.

Rakete: 10 Prozent – Entwurf 7

Startmasse
[kg]
Nutzlast
[kg]
Verkleidung
[kg]
Geschwindigkeit
[m/s]
Verluste
[m/s]
Nutzlastanteil
1286099 123439 7000 7800 1600 9,60 %
Stufe Anzahl Name Vollmasse
[kg]
Leermasse
[kg]
Spez.Impuls (Vakuum)
[m/s]
1 1 770032 48039 4460
2 1 385628 25200 4650

Was noch zu tun bleibt ist das Stufenverhältnis zu optimieren. Bisher resultierte es ja aus der Verwendung bestehender Stufen. Spätestens bei LOX/LF2 zeigt sich, dass dies etwas ungleich ist. die zweite Stufe ist viel zu groß. Macht man eine Simulation wobei man die Strukturquotienten gleich dem letzten Entwurf (16,03 und 15,30) lässt so kommt man auf dem finalen Zweistufenentwurf 8:

Rakete: 10 Prozent – Entwurf 8

Startmasse
[kg]
Nutzlast
[kg]
Verkleidung
[kg]
Geschwindigkeit
[m/s]
Verluste
[m/s]
Nutzlastanteil
1178605 114573 7000 7800 1556 9,72 %
Stufe Anzahl Name Vollmasse
[kg]
Leermasse
[kg]
Spez.Impuls (Vakuum)
[m/s]
1 1 770032 48039 4460
2 1 287000 18759 4650

Mit einer dritten Stufe (nur diese setzt Fluor ein) geht es noch ein bisschen. Der Strukturfaktor der zweiten Stufe ist hier 18,3, durch die CFK-Tanks deutlich besser als bei der Fluorkombination. Entwurf 9 ist nun mit drei Stufen:

Rakete: 10 Prozent – Entwurf 9

Startmasse
[kg]
Nutzlast
[kg]
Verkleidung
[kg]
Geschwindigkeit
[m/s]
Verluste
[m/s]
Nutzlastanteil
1716636 177555 7000 7800 1605 10,34 /
Stufe Anzahl Name Vollmasse
[kg]
Leermasse
[kg]
Spez.Impuls (Vakuum)
[m/s]
1 1 770032 48039 4460
2 1 530423 29145 4550
3 1 231626 15139 4650

In der Praxis müsste man die Trockenmassen in erster und zweiter Stufe bei so schweren Stufen erhöhen, was einen guten Teil des Gewinns wieder egalisiert, weil die Kräfte größer sind und man mehr Schub braucht. So richtig lohnen tun sich also eine dritte Stufe nicht.

In der Summe sind die 10% möglich – oder auch nicht. Nimmt man 10% der Raketenmasse an so kann man es erreichen, bei 10% Gesamtmasse (wo die Nutzlast ja schon mit dabei ist) schafft es nur der letzte Entwurf.

Die Frage ist – hat das irgendeine praktische Bedeutung? Ja und Nein. Nein, weil heute alle Träger auf möglichst niedrige Herstellungskosten optimiert sind. Dann greift man lieber zu Feststoffboostern. Fluor ist nur theoretisch untersucht, das einzige was ich an praktischen Versuchen finden konnte war ein kleines Testtriebwerk in den Sechzigern – immerhin bei nur 4 bAr Brennkammerdruck, 100 Expansionsverhältnis hatte dieses bei niedrigem Fluoranteil von 11% den gleichen spezifischen Impuls wie das Vinci mit 60 Bar Druck und Expansionsverhältnis von 240.

Auf der anderen Seite ist ja Wiederverwendung en Vogue. Wenn ich ein Triebwerk wiederverwenden will dann bin ich an einer möglichst hohen Leistung interessiert auch wenn es teurer wird. Zum einen schreibe ich die Herstellungskosten über viele Flüge ab und zum anderen bringt mir dies mehr Nutzlast und das kompensiert in gewisser Weise den Nutzlastverlust durch die für die Wiederverwendung nötigen Systeme. Daher sind die SSME bis heute die leistungsfähigsten Erststufenantriebe – obwohl sie mittlerweile 40 Jahre alt sind. Im Gegenteil, man kann sich bei wiederverwendbaren leistungsfähigen Triebwerken die man (oder die ganze stufe) wiederverwendet dann eine billige und einfache Stufe als zweite Stufe leisten z.B. einen Feststoffantrieb denn die zweite stufe kann man nur unter viel höheren Verlusten wiederverwenden.

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