Gestern bekam ich von Niels Harksen folgende Mail:
Hallo Bernd,
eine Frage die mir schon länger im Kopf herumschwirrt, und die sich vielleicht auch als Blogthema eignet:
Inwiefern ist es möglich, die vom Menschen benötigten Nährstoffe vollkommen synthetisch (ohne Zuhilfenahme von Leben) herzustellen, bzw. könnte man theoretisch auf weite Teile der Landwirtschaft zugunsten von chemischen Fabriken verzichten?
(natürlich mit einem Abfall der Lebensqualität, es geht hier nur um das „nicht verhungern“).
Ich habe mich das immer Mal im Zusammenhang mit dem Klimawandel und auch Raumfahrt/Planetenkolonisation gefragt.
Viele Grüße
Niels
Na das greife ich auf, auch wenn es im Kern auf ein einfaches „Nein“ herausläuft. Die Industrie erzeugt ja ziemlich viel. Das geht los von isolierten petrochemischen Produkten wie reinem Ethin (Acetylen) zum Schweißen, einfachen modifizierten Substanzen wie Ethanol oder Aceton über Polymeren wie Polyethylen bis hin zu komplexen Produkten wie Medikamenten, Hormonen oder Vitaminen.
Das könnte Hoffnungen nähren, wie die, die in obiger Mail anklingen. Fangen wir aber mal an der Basis an. Ausgang für die heutige chemische Industrie ist Erdöl, früher hieß sie deswegen auch petrochemische Industrie. Erdöl entsteht aus organischem Material das irgendwann einmal vom Leben gebildet wurde, indem es von Sauerstoff abgeschlossen wird und hoher Druck und/oder hoher Temperatur ausgesetzt wird. Dabei kommt es zum einen zum Abspalten der meisten Gruppen die Sauerstoff enthalten. Dabei entsteht letztendlich Kohlendioxid. Das Kohlestoffkette zerfällt zum Teil, zum Teil kondensiert Sie aber auch zu neuen Verbindungen. Erdöl ist daher ein Gemisch an Kohlenwasserstoffen unterschiedlicher Länge. Diese kann man noch unterteilen in kettenförmige (Aliphaten) und Kohlenwasserstoffe mit Ringstrukturen (Aromaten). Es sind gesättigte (Alkane) wie ungesättigte (Alkene und Alkine, Aromaten) und es gibt noch Kohlenwasserstoffe mit Femdatomen die mal in der organischen Substanz waren wie Stickstoff oder Schwefel.
Die chemische Industrie trennt als Erstes diese Substanzen auf. Wie, das hat Niels selbst beschrieben (Teil 1, 2 und 3. Das kann man auf Fraktionen mit bestimmten Siedepunkten beschränken wie Leichtbenzin, Benzin, Diesel, Heizöl, Kerosin oder diese noch weiter auftrennen bis man sogar Reinsubstanzen erhält wie z.B. Benzol, Oktan oder Toluol.
Dann erst beginnt die Chemie, bisher war alles noch Physik. Die Substanzen kann man spalten in kleinere Bruchstücke, man kann Wasserstoff abspalten oder addieren. Oftmals ist es Ziel eine bestimmte Ausgangssubstanz zu synthetisieren. Ethanol kann man z. B. durch Gärung gewinnen, man kann ihn aber auch durch Wasseraddition an Ethen erzeugen. Doch schon für dieses einfache Molekül (zwei Kohlenstoff-, sechs Wasserstoff- und ein Sauerstoffatom) benötigt dafür zwei Schritte. Für komplexere Moleküle nimmt die Zahl der Schritte (Chemiker sprechen von Stufen) rasch zu. Jeder Schritt hat nur eine bestimmte Ausbeute. Selbst 50 % Ausbeute sind da ein guter Wert. Doch selbst bei 50 % bleiben nach 5 Schritten nur noch 3 % der eingesetzten Substanz als Endprodukt übrig. Beim Ethanol sind es nur 5 %. Das geht nur wirtschaftlich, weil in dem Prozess die Ausgangssubstanzen wieder entstehen oder durch einfache Hydrolyse wieder gewonnen werden können. Bei höheren Synthesen entstehen dagegen oft Abfallprodukte, die man nirgendwo brauchen kann.
Vor allem gibt es chemische Grundreaktionen mit Regeln, die man nicht umgehen kann. Zwei Beispiele. Es gibt zwei dreiwertige Alkohole. Der eine (n Propanol) hat die Alkoholgruppe am Ende (erstes Kohlenstoffatom), der zweite (Isopropanol) in der Mitte )zweites Kohlenstoffatom). Wenn man nun sich die Preise der Chemikalien anschaut, so wird man feststellen, das n-Propanol viel teurer als Isopropanol ist. Bei einem Chemikalienvertrieb kostet 1 l Isopropanol 5,49 €, 1 l n-Propanol 10,12 €. Warum der Unterschied? Isopropanol kann man relativ einfach herstellen, indem man an Propen zuerst Salzsäure addiert und dann das entstehende 2-Chlorpropan hydrolysiert wobei das Chloratom durch die Alkoholgruppe ersetzt wird. Auf dieselbe simple Weise kann man aber nicht n-Propanol herstellen. Ein chemisches Gesetz regelt, dass wenn man an ein Alken mit einer Doppelbindung ein Molekül addiert, der elektronegative Teil (Chlor oder wenn man Wasser direkt addieren könnte: die OH Gruppe) immer an das Kohlenstoffatom geht, das am meisten andere Kohlenstoffatome als Nachbarn hat. In diesem Falle also in die Mitte. N-Propanol muss man auf andere Weise herstellen. Und das macht es teuer. Doch schon der Preis von Isopropanol, immerhin mehrere Euro pro Liter, für ein einfaches Molekül, zeigt wie teuer eine chemische Synthese ist.
In der Praxis versucht man daher die Zahl der Schritte so klein wie möglich zu halten. Komplexere Moleküle stellt man her, indem man natürliche Vorläufer nimmt. Diese kann man aus der Natur gewinnen. LSD wird z.B. aus Ergotamin gewonnen, einem Alkaloid das der Mutterkornpilz produziert. Es wird dann nur noch in drei Schritten modifiziert. Pilze, heute aber auch Bakterien sind ideale Organismen für die Gewinnung von Vorläufersubstanzen. Pilze kann man durch die Wahl der Umgebungsbedingungen dazu bringen ein bestimmtes Molekül in größeren Mengen zu produzieren. Dann muss man nur noch die Fermentationslösung aufarbeiten und die Substanz isolieren. So gewinnt man Vitamine, Antibiotika aber auch einfache Substanzen wie Zitronensäure. Bakterien kann man sogar genetisch manipulieren und so dazu bewegen eine Substanz zu bilden, die sie normalerweise nie bilden würden, weil sie keinen Nutzen davon haben. So wird heute Humaninsulin durch genetisch veränderte Bakterien hergestellt. Insulin ist ein komplexes Eiweiß, von dem die Bakterie gar nichts hat. Es wird als Hormon nur bei Säugetieren produziert. Ohne Blutkreislauf und Rezeptoren für Insulin auf der Zelloberfläche ist es für ein Bakterium völlig nutzlos.
So bildet heute die Industrie selbst einfache Moleküle aus natürlichen Substanzen. L-Cystein, eine Aminosäure, wurde lange Zeit hergestellt, indem man Proteine spaltet und sie daraus isoliert. Dazu nahm man Haare, da das Keratin viel dieser Aminosäure beinhaltet. Inzwischen gibt es die genmanipulierten Bakterien als zweite Quelle.
Kurzum: Selbst die Grundbausteine der Nahrung, also Kohlenhydrate, Fettsäuren oder Aminosäuren kann die Industrie nicht (bis auf wenige Ausnahmen) aus Grundbausteinen des Erdöls bilden. Geschweige denn aus diesen Grundbausteinen dann wieder die Makromoleküle wie Proteine oder Kohlenhydrate zu bilden. Lediglich diese Makromoleküle spalten und leicht modifizieren kann sie.
Es geht aber noch weiter. Basis ist Erdöl. Das ist endlich. Anders sieht es bei Erdgas bzw. dem Hauptbestandteil Methan aus. Methan kann man auch durch Fermentation von organischen Substanzen unter Sauerstoffabschluss bilden. Es gibt Verfahren, um aus Methan oder Kohle Kohlenwasserstoff zu bilden. Das bekannteste ist das Fischer-Tropschverfahren ohne das Deutschland abgeschnitten im Zweiten Weltkrieg von Rohöl den Krieg wahrscheinlich viel früher verloren hätte. Aber dies Verfahren erzeugen nicht das ganze Spektrum an Substanzen, die man im Rohöl findet, sie können also Rohöl als Ausgangsstoff für die chemische Industrie nicht ersetzen.
Alternative Leben
Was ich dagegen für möglich halte, ist das man Nährstoffe durch niedere Organismen erzeugt. Einzellige Algen haben hier ein enormes Potenzial. Verglichen mit höheren Pflanzen, die wir für Biomasse nutzen wie Chinaschilf oder Mais wachsen Algen unter optimalen Bedingungen sehr schnell, man kann sie in Röhren halten die vom Wasser durchströmt werden und wenn man ernten will, siebt man einfach den Inhalt ab. Es gibt verschiedene Arten. Die meisten produzieren nur Kohlenhydrate, aber einige auch Fett. Was man erhält, ist dann ein aufbereitetes Pulver. Das schmeckt nach nichts, doch das tut eine Zuckerlösung auch nicht. Mit Aromastoffen werden daraus aber leckere Bonbons. Doch selbst geschmacklose Sachen essen Menschen, wenn sie sich etwas davon erhoffen, z.B. wenn es ein hipper Proteindrink ist.
Für die Menschheit auf der Erde wohl hoffentlich nicht nötig (die Begrenzung des Bevölkerungswachstums ist viel einfacher und erfordert nur etwas natürlichen Gummi). Aber für eine Kolonisierung des Mars wären lange Glasröhren mit Algenkulturen eine mögliche Nahrungsquelle. Mit Sicherheit viel einfacher, als auf dem Mars Landwirtschaft zu betreiben.