Wenn Jewgnei-7 sich mal wieder in den Kommentaren austobt (mit dem Wunsch das in einen Blog zusammenzufassen, der meiner Ansicht nach viel informativer wäre, bin ich ja nicht durchgedrungen) und vorwiegend ein Bild zeichnet, als würde Russland an allen Fronten an der Spitze des technologischen Fortschritts stehen und es nur noch wenige Jahre dauern bis Wunderraketen die gesamte Weltraumfahrt revolutionieren, will ich mal ein Gegenbild zeichnen.
Ein grundlegender Unterschied zwischen Jewgeni-7 und mir ist, das ich mich mit der Vergangenheit und der Gegenwart beschäftige, weniger mit der Zukunft. Die Zukunft ist … nun ja unvorhersehbar. Wer sich in der Raumfahrt auskennt, ist sicher über zig verschiedene Studien, Projekte, Missionsplanungen gestolpert, die nie umgesetzt wurden. Daneben gab es zahlreiche Projekte, die nicht das hielten, was man sich erhoffte. Ich werfe als Buzzwort nur mal STS und 10,4 Millionen Dollar pro Flug und 60 Flüge jährlich ins Rennen.
Jewgeni sieht das anders. Darauf von mir angesprochen: „Fehlstarts sind nicht signifikant“. Tja Fehlstarts haben schon zum Aufgeben so manches Projektes geführt, so Europa I+II, Delta 3, aber in Russland schert man sich wohl nicht drum. Doch sie sind nur ein Symptom für das was ich ansprechen will.
Das Thema das ich heute rausgesucht habe ist aber nicht das Proton und Sojus 2.1v Fehlstarts haben. Es geht um das russische Raumfahrtprogramm als Ganzes. Ich kam drauf, weil ich in meinem Buch auch eine Passage über die Firmen und Triebwerke eingebaut habe und das zusammenzusssuchen war ein Tag Arbeit. Wenn man das macht und sich dann aktuelle Vorschläge für neue Trägerraketen, aber auch die Geschichte ansieht, dann wird einem klar, das hier Rivalität herrscht. Es gibt in Russland vier Firmen die Trägerraketen herstellen und vier die Triebwerke herstellen. Das ist eine Menge, zumal einige Firmen mehr als eine Trägerrakete produzieren und jeder Triebwerkshersteller mehrere Triebwerke. Die USA, zum Vergleich kommen derzeit mit sechs Triebwerken mit flüssigen Treibstoff aus: RD-25, RS–68, RL-10, RD-180, RL-10,Merlin. Ab nächstes Jahr sind es mit dem RD-181 eins mehr, das aber auch nur weil Lockheed verhinderte, das Orbital/ATK das RD-180 nutzen können. Dazu kommen noch drei Typen von Feststoftriebwerken die GEM-60, AJ-37 und Castor 30. Es gibt genau drei Firmen die Träger herstellen nachdem für die Delta nun die Jahre gezählt sind. Die ESA, immerhin kommerzieller Marktführer kommt mit zwei Trägern und zwei Triebwerken aus.
Russland schien mir vor einigen Jahren auf einem besseren Weg. Dank staatlicher Lenkung hätte das Land die Chance mit der Angara viele Trägerraketen abzuschaffen. Die ursprüngliche Version nutzt ja noch die alten Oberstufen und nur ein neues URM als erste Stufe, doch mit zwei neu entwickelten Oberstufen, in der Masse auf das URM angepasst könnte man sicher so einen Nutzlastbereich von 4-25 t abdecken. Der Wildwuchs an Trägern findet sich ja nicht nur bei den Raumfahrttypen sondern auch den ICBM: Russland hat derzeit sieben Haupttypen von ICBM in mehreren Untertypen im Einsatz, die USA nur zwei. Auch hier gilt: zu viele Firmen die um einen kleinen Markt rivalisieren.
Doch inzwischen sieht es anders aus. Da gibt es als neue Trägerrakete die Sojus 2.1v. Eine Sojus ohne Booster, aber nicht mit der leistungsfähigen Fregat Oberstufe sondern einer neuen namens Volga und geringerer Leistung. Wegen des geringen Schubs des RD-108A wurde dieses in der ersten Stufe durch ein NK-33 + ein RD-0110R ausgetauscht – zwei Triebwerke weil man nicht dran dachte konstruktiv was zu ändern: die alte Sojus hat ein Triebwerk starr eingebaut und vier Vernierdüsen an derselben Turbopumpe. Anstatt das man nun das NK-33 schwenkbar einbaut oder gleich (wegen des größeren Schubs) das neue RD-191 nimmt, machte man diese Krückenlösung um das alte Konzept und wahrscheinlich den Triebwerksrahmen nicht zu verändern. Progress, Hersteller der Sojus 2.1v hat auch die Sojus 5 vorgeschlagen. Das ist eine komplett neue Rakete mit LOX/Methan-Triebwerken. Nur der Name stammt von der Sojus. Netterweise liegt die Sojus 5 mit 9 – 22 t Nutzlast in der Region der Angara.
Warum? Nun wenn die Angara die Sojus ersetzt, dann brechen bei Progress Aufträge weg, die Angara wird von Chrunitschew produziert. Um das zu verhindern nimmt man lieber 40 Jahre alte Triebwerke, die bei der Antares schon ihre Anfälligkeit beweisen haben und damit der Gewinn auch im Unternehmen bleibt, besteht die Wolga Oberstufe aus einem alten Satellitenbus mit hoher Leermasse. Sicher so ist die Sojus 2.1v eine Konkurrenz zur Angara 1.1. Die Sojus 5 eine zur Angara 3-7. Doch ist der Regierung damit genutzt? Nein! Aber statt den bisherigen Kurs fortzuführen und schnell die Angara einzuführen hinkt die über Jahre hinter den Plänen hinterher und fliegt nur selten. Die Pläne für noch größere Raketen hat man ja inzwischen auf Eis gelegt. Geglaubt, dass Russland sie umsetzen könnte, wenn sie schon mal nicht die Angara im Zeitrahmen entwickeln können, hat eh niemand. Inzwischen hat man aus Geldmangel ja sogar die LOX/LH2 Stufe für die Angara eingestellt, forscht dafür an neuen Treibstoffkombinationen. Ja so was nennt man Chaos. Man hat also ein einsatzfähiges Triebwerk, kann eine Stufe für Indien bauen, aber selbst treibt man lieber jetzt die Acetam/Methan-Kuh durchs Dorf.
Geld ist ja in Russland da, nur nicht an den richtigen Stellen. Wostotschny soll in der ersten Ausbaustufe 6,3 Milliarden Euro kosten. Wenn ich Jewgenis Angaben für Herstellungspreise nehme entspricht das dem doppelten Betrag bei uns. (Sprich: dem doppelten volkswirtschaftlichen Wert, entsprechend wenige Steuereinnahmen gibt es auch) Nun ist das nicht wenig. Die neue Startbasis für die Ariane 6 soll 750 Millionen Euro kosten. Die der Sojus ST war 550 Millionen Euro teuer. Beides Anlagen mit allen Gebäuden zum Zusammenbau der Rakete, Satellitenintegration etc. Eine reine Startrampe ist billiger. SpaceX gab für eine in Vandenberg 75 Millionen Dollar aus. Für Brownsville wo keine Infrastruktur besteht, anders als in Vandenberg rechnet man mit 100 Millionen $. Selbst wenn man den hohen Preis von Ariane 6 nimmt könnte man so 8 Startrampen bauen, in Anbetracht des volkswirtschaftlichen werts 16. Drei Rampen würden ausreichen um 36 Starts (Ariane 6 soll 12-mal pro Jahr starten) durchzuführen, dass entspricht momentan der gesamten Kapazität Russlands, die 2014 insgesamt mit kommerziellen Starts 35 Starts durchführte. Man erkennt auch an den Beschäftigungszahlen in Woschody, dass die Uhren dort anders ticken. Im CSG arbeiten einige Hundert Personen an drei Trägern. SpaceX spricht auch von „several hundret“ Jobs in Brownsville. Wostotschny soll für 10.000 Personen ausgelegt sein wie Baikonur, eine Stadt nur für die Raumfahrt. Das ist ineffizient. Entweder man lagert die Industrie bewusst kostenintensiv von dem Herstellungsort an den Startort aus, oder man hat nicht gelernt Raketen mit wenig Personal zu starten.
Vor allem ist es volkswirtschaftlicher Unsinn. Es hat zehn Jahre gedauert sich mit Kasachstan über die Nutzung von Baikonur zu einigen. Nun ist es für 50 Jahre Enklave. So lange läuft der Pachtvertrag, egal ob Russland das Gelände nutzt oder nicht. Anstatt die Anlagen dort also zu nutzen baut man ein neues Kosmodrom, nur damit es in Russland ist. Sinnvoll wäre vor allem für die GTO-Transporte ein äquatonaher Startplatz. Dazu könnte man die Odyssey nutzen die nun zu 85% RKK Energija gehört, vielleicht noch eine zweite, weil die nicht mehr als sieben Starts pro Jahr zulässt oder man kauft oder pachtet Land von einem der vielen kleinen Inselstaaten die es im Pazifik gibt und baut dort eine Rampe auf. Aber es ist ja dann nicht in Russland. Aber von Mikronesien, Tuvalu oder den Marshallinseln hätte Russland sicher keine diplomatischen und wirtschaftlichen Probleme zu erwarten.
Das sind die Probleme die ich sehe. Da ist so was wie die Laserzündung ungefähr so wichtig wie für VW derzeit eine neue Zündkerze. Okay, der Vergleich hinkt: die meisten Raketen zünden nur einmal, eine Zündkerze arbeitet dagegen kontinuierlich über die gesamte Motorlebensdauer und hat Einfluss auf das Motorverhalten. Kurz: eine Zündkerze ist für VW vielleicht wichtiger als die Laserzündung für Russlands Raumfahrt. Aber so streut man Nebelkerzen. Nebelkerzen, die einen Wildwuchs an Trägerraketen, konkurrierende Firmen und Organisationen und die Geldverschwendung an den falschen Stellen verbergen sollen. Wer vieles anfängt, bekommt meisten nichts richtig fertig. Aber Projektionen für die Zukunft sind immer schöner als die Gegenwart, wie hieß es schon im Film „Eins -Zwei – Drei“: „Aber mit unserem übernächsten 5-Jahresplan werden wir euch überholen…“. So viel hat sich trotz Systemwechsel doch nicht geändert…