Die Lösung für ein überflüssiges Problem: Jupiter oder die Sonne?
Seit Längerem suche ich nach der idealen Auslegung einer Sonde, die möglichst schnell das Sonnensystem verlassen soll. Früher dachte ich daran möglichst schnell die Heliopause zu erreichen und zu überschreiten für die Voyager 1+2 rund 40 Jahre brauten. Mittlerweile gäbe es mit den Kuipergürtelobjekten als weitere Ziele. Das hat wieder einige Umbauarbeiten in meinem Programm ausgelöst und das ist dann wie die Renovierung eines alten Gebäudes (die erste Version ist noch datiert von 1987, also älter als mancher Blogleser und lief noch auf einem Z80 Prozessor): Eine Änderung zieht die nächste hinter sich, sodass ich da noch eine Weile arbeiten werde.
Der hyperbolische Exzess
Eine Möglichkeit mit wenig Aufwand viel Geschwindigkeit aufzunehmen ist es, bei hoher Geschwindigkeit nochmals einen Antrieb zu zünden. Eine solche Situation liegt vor, wenn man einen Planeten am nächsten Punkt einen Antrieb zündet, aber auch wenn man in einer sehr elliptischen Umlaufbahn nahe der Sonne einen Antrieb zündet. In beiden Fällen nutzt man den Hyperbolischen Exzess, der letztendlich auf dem Energieerhaltungssatz basiert. Dazu ein Beispiel. Wenn man sich Jupiter auf etwa 1.000 km nähert, so liegt, die Geschwindigkeit immer höher als die lokale Fluchtgeschwindigkeit, die bei 59.169 m/s liegt. Nehmen wir mal an es, wären 60 km/s. Nun zünden wir ein Raketentriebwerk, beschleunigen um 1 km/s auf 61 km/s. Wenn man den Planeten wieder verlassen hat, also die Einflusssphäre, wo die solare Gravitation überwiegt, erreicht, welche Geschwindigkeit hat man dann?
Es ist nicht 1 km/s, das was man addiert hat. Der Grund ist der Energieerhaltungssatz. Vor der Zündung lag die Energie der Sonde bei
E = ½ Mv² = ½ M 60²
Nun steigt v auf v+1000 m/s, und wenn man die konkreten Werte nimmt, dann sind es vorher 1,8 GJ/kg Masse und danach 1,8605 GJ/kg. Folglich bleibt als Energie nach Verlassen des Einflussbereiches des Planeten 60,5 MJ/kg übrig. Stellt man die obige Gleichung auf v um (v = √(2E) so ergibt sich als Geschwindigkeit 11 km/s. Das ist also echt lohnend.
Der Tatbestand ist übrigens für einige Dinge gut, sodass man bei zwei getrennten Manövern um einen Satelliten anzuheben weniger Geschwindigkeit aufbringen muss, als der Unterschied der beiden Kreisbahnen ist, oder die Energie die Erde zu verlassen um so geringer ist je erdnäher man zündet. Elektrische Antriebe müssen z.B. in etwa die Geschwindigkeit aufbringen, die sie in der Ausgangskreisbahn hatten, bei einer Zündung ist es dagegen nur die (√2 )-1-fache Geschwindigkeit.
Jupiter oder Sonne?
Der Gewinn ist um so größer je höher die Geschwindigkeit ist. Bei den Planeten hat man das Maximum daher bei Jupiter. Mit etwas höherer Startgeschwindigkeit kommt man hier auf bis zu 70 km/s bei der Annäherung. Mit 1 km/s Beschleunigung bleiben dann noch 11,87 km/s übrig, mit 2 km/s noch 16,85 km/s. Jupiter kann aber noch etwas anderes. Er kann die Sonde auf eine Umlaufbahn umlenken, deren Perihel nahe der Sonnenoberfläche liegt. Nehmen wir mal 1 Million km Abstand vom Zentrum an, das sind rund 300.000 km von der Oberfläche entfernt. Das Aphel liegt weiterhin in Jupiters Entfernung (779 Mill. km). Eine solche Bahn hat eine Geschwindigkeit von 514,944 m/s. Das ist nur 330 m/s unterhalb einer Fluchtbahn. Addiert man einen weiteren Kilometer, so ist man auf einer hyperbolischen Bahn. Und im Unendlichen bleiben so 26,285 km/s übrig. Also erheblich mehr als bei Jupiter. Bei 2 km/s sind es 41,51 km/s.
Jupiter hat aber einen anderen Vorteil: Der Geschwindigkeitsgewinn findet in 779 Millionen km Entfernung statt. Dann hat eine Sonde, die bei der Sonne beschleunigt wurde, schon Geschwindigkeit verloren. Ohne Beschleunigung beträgt die Bahngeschwindigkeit bei Jupiter nur noch 662 m/s. Dagegen addiert sich der Gewinn bei Jupiter zu einer viel höheren Startgeschwindigkeit. Doch auch die Sonnensonde hat, wenn sie hyperbolische Bahnen erreicht, eine rasante Geschwindigkeit. Mit 2 km/s mehr ist sie bei Jupiter noch 45,4 km/s schnell und mit einem Kilometer sind es immerhin noch 32 km/s. Das ist deutlich schneller als jede Sonde, die Jupiter verlässt, aber man hat auch den Umweg zur Sonne. Der kostet weitere Flugzeit, um zur Sonne und wieder zum Jupiter zu kommen,
Ich habe daher mal eine Simulation laufen lassen, welche Sonde zuerst 100 AE (15 Milliarden km) erreicht. Dort beginnt ungefähr die Heliopause. Die Startgeschwindigkeit richtet sich nach der Sonnensonde, für sie braucht man mindestens 40.300 m/s solar, damit das Perihel so tief rutschen kann. Das Ergebnis:
Sonde | Jupiter + 1 km/s@ 1000 km | Jupiter + 2 km/s @ 1000 km | Sonne + 1 km/s | Sonne + 2 km/s |
---|---|---|---|---|
Nächste Annäherung an Jupiter | 459,2 km | 431,3 km | 429,633 km | 429.633 km |
Flugzeit zum Jupiter | 1 Jahr 135 Tage | 1 Jahr 135 Tage | 1 Jahr 136 Tage | 1 Jahr 136 Tage |
Flugzeit zur Sonne | 2 Jahre 61 Tage | 2 Jahre 61 Tage | ||
Flugzeit bis in 15 Milliarden Km | 27 Jahre 48 Tage | 18 Jahre 87 Tage | 16 Jahre 285 Tage | 11 Jahre 59 Tage |
Gesamt bis 15 Milliarden km | 28 Jahre 183 Tage | 19 Jahre 222 Tage | 20 Jahre 117 Tage | 14 Jahre 256 Tage |
Kann man sich so stark der Sonne nähern?
In der Summe ist man also bei beiden Geschwindigkeitsänderungen trotz des Umwegs über die Sonne besser, zumal bei noch größerer Distanz die Diskrepanz noch größer wird. Dem muss man die Massebilanz gegenrechnen, denn damit die Sonde nur 334.000 km über der Sonnenoberfläche vorbeiziehen kann, braucht man einen wirklich großen Hitzeschutzschild. Solar Probe+ kommt mit einem kohlefaserverstärktem RCC-Schild mit 11,4 cm Dicke aus, nähert sich aber nur auf 6,2 Millionen km der Sonne (entspricht 344-fach geringer Belastung). Bei diesen Temperaturen kann man das Material noch nehmen (es wird bis 1344°C heiß, beim Space Shuttle war es bis 1620°C zertifiziert). Bei so starker Annäherung wird man wahrscheinlich einen ablativen Schild nutzen. Etwa 6 Stunden 40 Minuten braucht die Sonde um sich von 6,2 auf 0,334 Millionen km nähern, da dürfte einiges abschmelzen. So ist derzeit technisch wahrscheinlich nur eine Annäherung auf 6,2 Millionen km möglich. Mit dieser größeren Entfernung kommt man auf folgende Tabelle:
Sonde | Jupiter + 1 km/s@ 1000 km | Jupiter + 2 km/s @ 1000 km | Sonne + 1 km/s | Sonne + 2 km/s |
---|---|---|---|---|
Nächste Annäherung an Jupiter | 459,2 km | 431,3 km | 1.494.308 km | 1.494.308 km |
Flugzeit zum Jupiter | 1 Jahr 135 Tage | 1 Jahr 135 Tage | 1 Jahr 137 Tage | 1 Jahr 137 Tage |
Flugzeit zur Sonne | 2 Jahre 167 Tage | 2 Jahre 167 Tage | ||
Flugzeit bis in 15 Milliarden Km | 27 Jahre 48 Tage | 18 Jahre 87 Tage | 46 Jahre 163 Tage | 20 Jahre 317 Tage |
Gesamt bis 15 Milliarden km | 28 Jahre 183 Tage | 19 Jahre 222 Tage | 50 Jahre 102 Tage | 24 Jahre 256 Tage |
Und schon kehrt sich das Verhältnis um. Die Sonde muss zudem in jedem Falle einen Hitzeschutzschild mitführen. Bei 2 m² Größe würde ein solcher Schild rund 365 kg wiegen (Dicke 11,43 cm, Dichte 1,6 für RCC).
Alternative: Ionentriebwerke
Bei 2 km/s Geschwindigkeitsänderung wird bei einer 1 t schweren Sonde der Antrieb weitere 1,27 t wiegen (Feststoffantrieb, spezifischer Impuls 2850 m/s, Strukturfaktor 10). Anstatt diesen Abtrieb erst bei Jupiter zu zünden, könnte der Jupiter eine Sonde auch erst mal auf eine „normale“ Ellipse mit einem Perihel von 100 Mill. Km schicken. Und dann nahe der Sonne Ionenantriebe einsetzen: Das Resultat bei gleicher Sondenmasse wäre man mit 50 kW Leistung, RIT 2X Triebwerken schon nach 20 Jahren 160 Tagen nach Jupiterpassage in 15 Milliarden km Entfernung. Dabei fiele der Schutzschild weg und die Startgeschwindigkeit wäre mit 38.800 m/s auch kleiner (korrespondiert mit 14.245 / 15.238 m/s), was auch die Nutzlast erhöht.
Der Umweg über Jupiter (man könnte die Ionentriebwerke ja auch gleich nach dem Start einsetzen lohnt sich, weil die Ausgangsbahn schon eine Ellipse ist. So wird man beim Ausweiten das Perihel kaum verändern. Zum Vergleich habe ich eine 5 t schwere Sonde zuerst zur Venus geschickt und dann das Ionentriebwerk eingesetzt. Bei in etwa gleicher Nettonutzlast braucht diese über 30 Jahre um die Distanz zu erreichen. Allerdings korrespondiert dies auch mit einer höheren Startgeschwindigkeit. Zur Venus braucht man nur 11,4 anstatt 14,2 km/s. Der direkte Vergleich wäre eine Sonde auf einer Jupitertransferbahn mit derselben Startgeschwindigkeit. Diese braucht da sie nur während eines Halbastes aktiv ist mit über 41 Jahren deutlich länger. Es lohnt sich also auch für Ionentriebwerke, den Jupiter als Umweg zu nehmen.
Die dritte Lösung ist übrigens ein Sonnensegel: http://strathprints.strath.ac.uk/16625/
Die Flugzeit vom Start bis zu einer Entfernung von 200 AU (also doppelt so weit, wie Bernd rechnet) wird laut dem zitierten Paper wohl um die 25 Jahre betragen.