Die größte Panne der NASA

In meiner kleinen dreiteiligen Serie zum sechszigsten Geburtstag der NASA geht es heute um die größte Peinlichkeit im US-Weltraumprogramm. Gut da kann man unterschiedlicher Meinung sein. Was ist peinlich? Das hängt vom Standpunkt und Zeitgeist ab. 1969 bekam die NASA jede Menge erboster Zuschriften als in einer brenzligen Situation Eugene Cernan ein „son of a bitch“ rausrutschte. Aber das sehe ich das nicht als peinlich oder als Panne an. Ich habe mir einen Vorfall rausgesucht, der stellvertretend für ein Dauerproblem der NASA steht: Der Verlust des Mars Climate Orbiters (MCO). Zuerst mal die Geschichte:

Am 23.9.1999 stand die Abbremsung des MCO in den Orbit an. Eine letzte Kurskorrektur, die noch möglich gewesen wäre, wurde als unnötig befunden. Um den Treibstoffverbrauch beim Einschwenken in den Orbit zu minimieren, nähert sich der MCO dem Mars so nahe wie möglich, um kurz vor Passage des marsnächsten Punktes das Haupttriebwerk zu zünden. Es verlangsamt in 16 Minuten den Satelliten um 1.370 m/s. Der MCO sollte in einen elliptischen Orbit mit einer Umlaufszeit von 14 Stunden einschwenken.

Bei dem Manöver ist keine Funkverbindung möglich. Nach dem Einschwenken in den Orbit würde sich der Mars Climate Orbiter drehen und die Bodenstation kontaktieren. Wenn er hinter dem Mars auftaucht, besteht wieder Funkverbindung. Doch der Climate Orbiter blieb stumm. Normalerweise braucht man bei einem solchen Vorkommnis Wochen, um die Ursache zu finden. Beim Mars Observer, bei dem sechs Jahre vorher Ähnliches passierte, wurde nie genau geklärt, was passierte. Beim MCO fand man die Ursache innerhalb eines Tags.

Man wertete die letzte Telemetrie aus, die sechs bis acht Stunden vorher übertragen wurde. Aus dem Funksignal wurde über die Dopplervermessung die Geschwindigkeit der Sonde bestimmt und aus dieser wiederum, wo sich der MCO befand. Es zeigte sich, dass der marsnächste Punkt der Bahn 57 km über der Oberfläche lag, anstatt in 140 bis 150 km Distanz. Der Mars Climate Orbiter wurde in dieser Höhe durch die Reibungshitze zerstört.

Doch wie kam es dazu? Man ging zurück zur letzten Bahnanpassung am 15.9.1999. Die Flugkontrolle rechnete noch mit einer Kurskorrektur vor Eintreten in den Orbit, die aber nicht erfolgte. Man rechnete deswegen mit einer Korrektur, weil sich MCO bis auf 226 km an den Mars nähern sollte. Nach den Bahnvermessungen nach der letzten Bahnanpassung näherte er sich aber auf 110 km. Das war eine so hohe Abweichung, dass die Flugkontrolleure eine Korrektur der Distanz für notwendig erachteten. Die Projektleitung vertrat die Meinung, dass der Kurs sehr nah am Mars lag, aber doch noch außerhalb der Gefahrenzone, die in 85 km Höhe beginnt. Beim Aerobraking würde sich der MCO dem Mars auf bis zu 100 km nähern. Der Abstand war also noch größer als in der nächsten Missionsphase.

Die primäre Ursache für die Abweichung von der Sollbahn war ein Verfahren namens Angular Momentum Desaturation (AMD). Durch das große, einteilige Solarpanel bei der kleinen Masse des Orbiters bekam die Sonde durch die Sonnenstrahlung einen Drall. Das war schon bei der Konstruktion bekannt. Eine Lösung wäre gewesen, die Sonde regelmäßig um 180 Grad zu drehen. Man wählte jedoch eine andere Strategie. Die Drallräder kompensierten das Moment, doch bei Dauerbetrieb wurden sie immer schneller und das war gefährlich. Man musste sie zyklisch herunterfahren. Also drehte man von Zeit zu Zeit den MCO mit den Lagekontrolltriebwerken, da das Herunterfahren der Räder die Sonde sonst drehte. Dies war das AMD-Manöver. Bei MCO war das AMD zehn bis 14-mal häufiger als bei anderen Sonden, weil das Solarpanel unsymmetrisch am Sondenkörper angebracht war.

Der häufige Einsatz der Triebwerke beeinflusste den Kurs. Man musste dies bei der Navigation berücksichtigen. Dazu gab es vom Hersteller des MCO, Lockheed Martin, eine AMD-Einheitentabelle, den AMD-Small-Forces-Files. Die Zahlen in dieser Tabelle waren bei Lockheed in amerikanischen (imperialen) Einheiten erstellt worden, die Impulse waren in der Einheit US-Pfund × Sekunden angegeben. Bei der NASA wurde das weltweit gebräuchliche SI-System verwendet (Newton × Sekunde). Diese beiden Systeme differieren um den Faktor 4,45. 1 lbs entsprechen 4,45 Ns. Die Tabellen wurden in ein Softwareprogramm des JPL zur Berechnung der erwarteten Abweichung eingelesen. Der MCO konnte die Kräfte, die das AMD-Manöver verursachte, auch bestimmen. Er hatte Beschleunigungsmesser und Lasergyroskope an Bord. Doch erstaunlicherweise ignorierte man diese Daten.

Während der ersten vier Monate nach dem Start konnte die NASA die AMD Tabellen wegen zahlreicher Softwarefehler (darunter „multiple file format errors“) nicht nutzen. Das JPL ließ sich von Lockheed Martin, die während dieser Zeit die AMD-Manöver im Auftrag durchführten, per Email informieren. Als das JPL erstmals mit der Software arbeiten konnte, stellte sich heraus, dass man den Effekt wohl drastisch unterschätzt hatte (der Faktor 4,45 schlug nun zu). Da der Schub der Triebwerke senkrecht zur Sichtlinie erfolgte, konnte man den tatsächlichen Effekt nicht durch Dopplermessungen verifizieren. So korrigierte die Flugkontrolle bei den Kurskorrekturen nicht nur das erwartete Drehmoment, sondern das 4,45-fache dieses Wertes und lenkte dadurch den MCO auf die zu nahe Bahn. Als man die Werte bei der Ursachenforschung korrigiert um den Faktor 4,45 erneut berechnete, zeigte sich, dass sich der MCO bis auf 57 anstatt 110 km dem Mars nähern würde. Auf dieser Bahn verglühte er schließlich.

Als ich das hörte, war ich baff. 1978 wurde bei uns das SI-System, das schon im wissenschaftlichen Bereich seit Langem eingesetzt wurde auch für den Alltag gesetzlich vorgeschrieben. Damals gab es eine siebenteilige ZDF-Serie über die Basiseinheiten (ja damals gab es noch Bildungsfernsehen, nicht nur Wissensfernsehen. Der Unterschied? Es gibt überflüssiges Wissen, aber nicht überflüssige Bildung). In der Schule hatte ich nur SI-Einheiten. Klar in der Physik, wo man es am häufigsten in der Schule mit Einheiten zu tun hat, sind sie gang und gäbe. Auch weil man viele Berechnungen nur mit den SI-Einheiten machen kann. Wer versucht nach Boyle-Mariotte das Volumen oder den Druck eines Gases bei sich ändernder Temperatur zu berechnen und nimmt dafür Celsius oder Fahrenheit, kann sogar negativen Druck und negatives Volumen raus bekommen. Ich habe in der Schule auch Energieangaben in Kilojoule gelernt, eine Einheit, die in den Medien bis heute noch nicht angekommen ist. Das es in den USA doch etwas anders läuft habe ich aber schon damals gemerkt. Während ich mich bei der Schreibweise einiger Elemente umgewöhnen musste, so Bismut anstatt Wismut und Iod anstatt Jod um sich der internationalen Nomenklatur anzunähern, blieben die Amis bei ihrem Potassium und Sodium und wie ich erst als ich mich mehr mit Raumfahrt beschäftigte auch beim Tungsten. Immerhin waren sie in anderen Dingen konsequenter. Bei ihnen hies es Cholesterol, nicht Cholesterin, da sieht man gleich das es ein Alkohol ist, auch wenn die Benennung als Sterin nicht falsch ist, wenn man Sterine als Substanzgruppe einführt (analog sind ja auch Monosaccharide chemisch Alkohole trotzdem enden alle Zucker auf „ose“ als Kennzeichen zu dieser Gruppe). Übrigens hat die DDR diese Nomenklatur auch übernommen, wie man schnell in DDR-Oranikbüchern sieht. Dort heißt es auch Benzen und nicht Benzol. Wer hätte gedacht das die USA mal mehr Gemeinsamkeiten mit der DDR als BRD haben?

Aber was hat das mit der Raumfahrt zu tun? Nun auch dort ist das SI-System in der Wissenschaft und Technik Standard. Alle frühen Raumfahrtbücher, die ich hatte, nahmen SI-Einheiten wie N, m/s, kg. Sie waren damals in Deutsch und geschrieben von Journalisten oder Ingenieuren. Gewundert habe ich mich über andere Dinge. Wie bestimmt man das Gewicht einer Atlas Rakete auf ein Kilogramm genau, denn so genau waren die Angaben. Warum hat sie einen Durchmesser von 3,05 m und nicht geraden 3.00 m. Naiverweise dachte ich damals daran, dass man den Durchmesser wohl durch genaue Rechnung für das geringste Startgewicht so festgelegt hat. Heute weiß ich es besser: Die genaue Kilogramm-Angabe kam nur durch die Umrechnung von US-Pfund (0,4536 kg) in Kilogramm zustande. In Wirklichkeit war die Angabe nur auf 1000 US-Pfund genau und auch der Durchmesser war nicht berechnet, sondern einfach fix auf 10 US-Fuß (0,3048 m) festgelegt worden.

Mit der Zeit des Internets und immer mehr englischsprachigen Quellen habe ich mich dann gewöhnt US-Angaben umzurechnen, auch wenn man für manche den Taschenrechner braucht, wie so sinnige Angaben wie „Kubikfuss“ oder „Pfund pro Quadratzoll“. Der Verlust des MCO war für mich trotzdem eine Überraschung. Zum einen, wie er passieren konnte, was ja nicht gerade für die NASA spricht. Warum hat keiner die Programme bzw. die Tabellen von Lockheed-Martin überprüft. In welchen Einheiten die arbeiten, muss ja dokumentiert sein. Das zugrunde liegende Problem ist aber das in der Luft & Raumfahrtindustrie weiterhin mit „imperialen“ Einheiten gearbeitet wird. Das ist ja nun mal keine Industrie mit Low-Tech, die nur für den lokalen Markt produziert. Die Raumfahrtindustrie ist international vernetzt und hat ziemlich viel mit Technologie und Physik zu tun. Zumindest in Letzterem wird man SI-Einheiten einsetzen. Sind diese Einheiten im Alltag schon etwas komisch – man kann nur schwer zwischen ihnen umrechnen. Während man von Millimetern in Meter und Kilometer nur um den Faktor 1000 multiplizieren muss, gibt es zig verschiedene Umrechnungsfaktoren von Inch zu Fuß zu Yard zu Meilen bzw., nautischen Meilen. Oder von Unzen zu Pfund zu Tonnen (nein nicht metrischen Tonnen). In der Technik gibt es aber zahlreiche aus den 7 SI-Basiseinheiten abgeleitete physikalische Größen und dann wird es wirklich skurril wie die für den spezifischen Impuls (Einheit Sekunden! – also eine Zeit für eine Impulsgröße) oder eben so was wie Fuß/Sekunde, Pfund pro Quadratzoll.

Das Schlimme ist. Es hat sich in 50 Jahren eigentlich nichts geändert. Schon in den Sechzigern gab es für Apollo Dokumente vom MFSC in metrischen Einheiten und von der US-Industrie oder anderen NASA Zentren in imperialen Einheiten, wie ich gerade bei der Recherche sehe. Ratet mal, wo die Deutschen die Leitung hatten. Bis heute ist es in den öffentlichen Auftritten der NASA unterschiedlich. Es gibt Websites mit metrischen Einheiten, die sind aber die Ausnahme, dann gemischte (ein System folgt dann immer in Klammern) und dann auch nur Auftritte mit US-Einheiten.

Was mich wirklich ärgert, ist das auch in Europa, obwohl wie das SI-System haben einige US-Einheiten eingezogen sind, seit ehemalige Astronauten, die nie Luft & Raumfahrttechnik studiert haben aber ihre Ausbildung als Astronaut in den USA absolviert haben, als Professoren Studenten unterrichten, wie den spezifischen Impuls. Da findet man auch in deutschen oder ESA-Publikationen die US-Einheit. Vielleicht ist es aber auch nur ein Ausdruck des weltweiten PISA-Syndroms und des Rückgangs der Qualität der Ausbildung, da man ja alles im Internet nachlesen kann. Da muss man ja auch die Einheiten von dem, wo man abschreibt, übernehmen. Ich denke das es auch nicht gut gehen kann in zwei Systemen zu arbeiten und der Verlust des MCO sicher nicht das einzige Vorkommnis bleiben wird.

Doch Abhilfe sehe ich nicht. Die Angaben bleiben gemischt. Sogar innerhalb eines Unternehmens. Webseiten von ULA sind z.B. in imperialen Einheiten, die Dokumente für Kunden, wie der Users Guide für Raketen in SI-Einheiten. Die einzige Firma, die ich kenne, die sich da positiv abhebt, ist ausgerechnet SpaceX.

Ich verstehe auch nicht, warum, die Industrie nicht das SI-System übernimmt. In der NASA ist es ja intern vorgeschrieben und die dürfte ein wichtiger Kunde sein. Das ist ja völlig unabhängig von dem in der Allgemeinheit verwendeten System. Da können sie ja gerne bei Fuß, Unzen und Faraday bleiben. Bei uns gibt es ja auch noch Nischen für Nicht-SI Einheiten. Temperaturen geben wir immer noch in Celsius und nicht Kelvin an und die von mir schon erwähnte Kalorie oder die von den Autofahrern so geliebten PS sind auch noch ein Beispiel.

2 thoughts on “Die größte Panne der NASA

  1. Ach ja, das ist wirklich ein Thema über das man sich endlos aufregen kann und das wohl jeder kennt der sich auch mit der technischen Seite der Raumfahrt etwas beschäftigt.

    Und das schlimmste daran ist wirklich, dass man auch in deutschen Publikationen davor nicht sicher ist. Ich wache manchmal noch nachts schweißgebaded auf und erinnere mich an mein erstes Buch das ich mir zu dem Thema mal geleistet habe: Raketen und Raumfahrt von Philipp Burkhalter.

    Unabhängig davon, dass die Hälfte eines Buches mit diesem Titel über Modellraketen handelt, war es formeltechnisch eine Katastrophe. Da wurden Impulse mit Geschwindigkeiten und Sekunden sowie Kräfte mit Massen und Impulsen quer durcheinander gewürfelt so dass kaum eine Rechnung stimmte.
    Man merkte dass der Autor alles nur aus amerikanischen Quellen kopierte und die Formeln nicht einmal selbst nachrechnete.

    Das war zwar ein Fehlkauf (trotz der wirklich guten Abbildungen) aber man lernt ja daraus.
    Heute werde ich direkt skeptisch wenn spezifische „Impulse“ in Sekunden angegeben werden.

  2. Ist zwar etwas offtopic, paßt aber zu Pleiten Pech und Triumphe:

    Der Abbruch des gestrigen Starts einer Sojus-Mission zur ISS halte ich für eine „Sternstunde der Russischen Raumfahrt“.
    Niemand ist zu Schaden gekommen, das Sicherheitssystem hat perfekt funktioniert. Sozusagen ein erfolgreicher Fehlschlag 😉

    Ich würde immer eine Sojus-Rakete bevorzugen wenn ich in die Umlaufbahn fliegen wollte!

    Meint Ralf mit Z.

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