Der kürzeste Flug im bemannten US-Weltraumprogramm
21. November 1960. Kurt Debus zählt vom Blockhaus aus die letzten Sekunden des Countdowns des ersten Flugs des Mercury Programms MR-1 herunter „Three, Two, One, Zwo Fire Liftoff“.
Im Kontrollzentrum am Cape verfolgt man den Start, auf die Wand wird das Bild einer Fernsehkamera projiziert, welche die Rakete bei der Zündung zeigt und dann nach oben schwenkt um ihr zu folgen, sie aber schnell verliert.
„Look at the Acceleration of that son of a bitch“ sagte Flugdirektor Chris Kraft nach eigenen Aussagen. Folgt man den Memoiren von Gene Kranz, dann hat er den Satz nicht ganz vollendet. Derselbe Gedanke kam aber auch Kranz – wow, wie schnell beschleunigt aber die Redstone, wenn die Kamera ihr nicht folgen kann. Als die Kamera nach einigen Sekunden aber die Rakete immer noch nicht eingefangen hat schwenkt sie zurück zum Startturm und da sitzt sie!
Krafts Gesicht wird rot, man sieht, irgend etwas verwirrt ihn zunehmend und er schreit „Booster, what happend?“
Während er dies noch sagt, sieht man an der Raketen die Sprengbolzen zünden und der Rettungsturm fliegt weg. Kurz darauf ploppen aus der Kapsel die Bremsfallschirm heraus, gefolgt vom Hauptfallschirm, Aluminiumstreifen regnen an der Rakete herunter und gelbe Leuchtfarbe läuft an der Wand entlang. Zuletzt werden die Reservefallschirme abgeworfen.
„Booster“, der für die Überwachung der Rakete verantwortliche diskutiert währenddessen mit der Startmannschaft im Blockhaus – vorwiegend in Deutsch, denn die gesamten Spezialisten sind deutsche Ingenieure aus von Brauns Team, welche die Redstone konstruiert haben, und die nun in der Anspannung wieder in ihre Muttersprache zurückfallen.
Kraft wird zunehmend wütender, weil „Booster“, Joachim Küttner nicht mit ihm redet, sondern mit dem Blockhaus diskutiert. Bis er schließlich zu ihm geht, das Headset aus der Konsole zieht und sagt „Booster, speak to me dammit“. Dann zurück an der Konsole „the damn Germans still haven’t learned who they work for. Everyone in this control room must work for me“. Damit waren die Kompetenzen geklärt.
Doch das Problem blieb. Da stand nun eine Rakete, sie hatte gezündet, war kurz abgehoben, dann aber hatte schon das Triebwerk Brennschluss und so stand sie noch auf dem Pad – gefüllt mit rund 23 t Treibstoff und nun nahm der Seewind die Fallschirme auf und zog sie straff – würde die Rakete durch den Zug umfallen? Wie sollte man sie deaktivieren, denn mit dem Abheben waren alle Verbindungen gelöst, aber die Sicherheitssysteme der Rakete – Selbstzerstörungssysteme, etc. waren nun scharf geschaltet und konnten sie eventuell noch sprengen.
Eine heiße Diskussion kam auf. Von Kurt Debus kam der Vorschlag, dass „A man with a gun“ Löcher in die Rakete schießen sollte um den Tankdruck im LOX-Tank abzubauen. Die Äußerung, die als Bruchstück auch den Kontrollraum erreichte, führt zu noch heftigeren Reaktionen. Fast jeder hielt es für eine „bad idea“ mit einer Kanone auf eine Rakete voll mit Treibstoff zu schießen. Andere Ideen bestanden darin mit einem „Cherry-Picker“, einem Kranwagen, wie für die Arbeit an Telefonleitungen an die Rakete heranzufahren und die Fallschirmleinen zu durchtrennen, weil der Zug die Rakete umkippen lassen könnte. Doch auch das wurde als zu riskant für das Personal angesehen. Schließlich hatte jemand die Idee, die dann auch umgesetzt wurde: Einfach nichts zu tun! Bis zum nächsten Morgen war die Wettervorhersage günstig, die Winde mäßig. Bis dahin wären die Batterien entladen und damit das Sicherheitssystem inaktiv sein und die steigende Erwärmung würde dazu führen, dass sich die Sauerstoffüberdruckventile öffnen würden und die Rakete sicher war.
So kam es dann auch. Am nächsten Morgen fuhr dann ein Team heran, durchschnitt die Fallschirmleinen und dann kletterte Walter Burke, Vizepräsident von McDonnell in die Kapsel armierte die Retroraketen und schaltete die anderen elektrischen Systeme der Kapsel aus. Die Mercury Kapsel hatte eine eigene Stromversorgung, die zu diesem Zeitpunkt noch aktiv war.
Was war technisch passiert? Es gab zwei Kabel die zu der Redstone führten, beide sollten beim Start abgetrennt werden. Das eine Kabel war eine Art „Datenkabel“, mit zahlreichen Unterkabeln die zu der Steuerung führten und das zweite war ein Stromversorgungskabel.
Die normale Reihenfolge ist diese: Das Kontrollkabel wird zuerst abgetrennt. Danach folgt das Stromversorgungskabel. Die Verdrahtung der Elektrik war so ausgelegt, dass das Steuerungskabel zuerst abgetrennt werden muss, dann erst die Stromzufuhr. Die beiden Kabel sind normalerweise unterschiedlich lang, eine Differenz von einem halben Zoll (13 mm) liegt zwischen den beiden Längen. Ist dies nicht der Fall, so war die Logik folgende: Es ist aus irgendeinem Grund das Kontrollkabel vor dem Start abgegangen, aber das Stromkabel noch aktiv. In diesem Falle darf natürlich die Rakete auf keinen Fall zünden, wenn nun Leute zur Rakete gehen und das Kontrollkabel wieder anbringen. Also gibt es dann durch die fehlende Erdung des Kontrollkabels einen Stromfluss in einem Relais, das das Triebwerk abschaltet. Diese Logik garantierte, dass die Rakete sicher war, solange bis das Kontrollkabel abgezogen wurde, danach hatte sie aber schon abgehoben und nun war ihr eigenes Flugsystem aktiv.
Es kam nun wie es kommen musste: Man hatte die Kabel der militärischen Redstone durch neue ausgewechselt, die kürzer waren. Nun löste sich das Stromkabel vor dem Kontolkabel ab. Es war einen Zoll kürzer. Das ergab eine Zeit von 21-29 Millisekunden, in denen das Kontrollkabel noch an der Rakete war, aber das Stromkabel nicht. Das reichte aus, das Relais auszulösen und die Redstone schaltete ihr Triebwerk ab. Sie hatte sich nur um etwa 10 cm erhoben (der Flug wurde später als der „Four Inch Flight “ berühmt, fiel zurück auf die Startplattform, aber es passierte nichts. Nur einige Finnen hatten sich verbogen und es gab einige Dellen in der Plattform.
Die folgenden Ereignisse waren eine Folge des programmgesteuerten Vorgehens bei Mercury. Das Abschalten des Haupttriebwerks aktivierte die Steuerung der Mercury Kapsel, die nun als erstes den überflüssigen Fluchtturm abtrennte (beim planmäßigen Vorgehen entsprach dies dem Brennschluss der Rakete, die nun ja keine Gefahr mehr darstellte). Das nächste Ereignis sollte die Abtrennung der Kapsel sein. Dies wurde ausgelöst von Sensoren, wenn die Beschleunigung einen Grenzwert unterschreitet. Der Sinn dessen war, dass die Rakete die noch etwas Restschub durch sich entspannende Gase hat, nicht mit der Kapsel kollidiert. Die Kapsel wäre in einer ballistischen Bahn abgetrennt worden, also schwerelos gewesen. Da sie noch am Boden war, maßen die Sensoren eine konstante Beschleunigung von 1 g und lösten nicht aus.
Der nächste Punkt im automatischen Programm war die Auslösung des Bremsfallschirms. Dies wurde durch die Höhe ausgelöst. Sobald eine Höhe von kleiner 3.000 m Höhe erreicht war löste er genauso wie der Hauptfallschirm automatisch aus. Bei einem Druck von 1 bar, erfolgte dies praktisch direkt nach Aktivierung. Programmgesteuert folgte dann die Abtrennung der Aluminiumstreifen für die bessere Verfolgung mit dem Radar sowie wenn die Kapsel auf Meereshöhe angekommen ist die Freisetzung von gelbem Leuchtfarbstoff, den man besser im Wasser sehen kann als die Kapsel.
Das war die positive Meldung: Das gesamte Kontrollprogramm hatte funktioniert! Besonders de Fluchtturm, der vorher bei Tests überhaupt keine gute Figur gemacht hatte. Allerdings entdeckte man einen Fehler im Programm: ein normaler Shutdown des Triebwerks hatte ihn ausgelöst. Das sollte eigentlich nicht passieren. Damit hatte der Astronaut keine Möglichkeit mehr den Fluchtturm zu nutzen um von der Rakete wegzukommen (Beispiel: Die Rakete schaltet ihr Haupttriebwerk im Flug ab und nun sitzt die Kapsel ohne Rettungsturm auf einer Rakete mit einigen Tonnen Treibstoff ….). So bekam die Steuerung eine Sperre, nachdem ein Abschaltsignal erst nach 129,5 s (10 s vor dem normalen Abschalten) den Fluchtturm auslösen konnte.
Die Kapsel und Rakete waren nahezu unbeschädigt, wurden inspiziert und repariert und starteten am 16.12.1960 ein zweites Mal als Mercury Redstone 1A. Hier unten nochmals das Video des kürzesten Raumflugs der USA ….
So, ab morgen bin ich für 10 Tage weg. Das bedeutet dass es nun die nächsten 10 Tage etwas weniger Blogs gibt. Eingestellt sind welche für den 21,23,25,27 und 29. Ab dem 30/1.5 bin ich wieder da. Unter den Blogs ist auch ein Gastbeitrag von Thierry Gschwind.
Ein Auszug aus dem kommenden Mercury-Buch?