Entschleunigung

Es gibt so ein paar neue Modewörter. Das eine ist das "Real life". Nein nicht die Gruppe aus den Achtzigern mit den Hits "Send me an Angel" und "Catch me im Falling". Das nicht-virtuelle Leben wird damit bezeichnet, was an und sich schon komisch ist. Wenn man eine Vorsilbe platziert, dann sollte das eher beim virtuellen Leben geschehen.

Eine zweite ist Entschleunigung. Das zeigt schon wie das Leben immer hektischer geworden ist. Auf allen Gebieten. Firmen legen Geschäftsberichte im 3-.Monatsabstand vor, was sehr kontraproduktiv für einen langfristigen Erfolg oder das Investieren in die Zukunft ist. Privatpersonen meinen dauernd erreichbar zu sein, oder dutzende von Kurznachrichten jeden Tag zu verfassen, oder twittern ihr Seelenleben ins Internet hinaus. Ich frage mich immer woher die Leute überhaupt so viel Material haben um zu schreiben – ich tue mich schon mit den täglichen Blogs schwer.

Auch im Berufeleben geht es immer hektischer zu und in vielen Branchen sind Überstunden gang und gäbe. aber auch so im Leben wird alles schneller. Selbst Filme. Ich habe mal beim SWR nachgefragt warum sie eine Serie aus den Siebzigern auf deren Wiederausstrahlung ich mich so gefreut habe nicht in voller Länge zeigten, sondern zusammengeschnitten und bekam die Antwort: "Weil die Schnitte von damals nicht mehr den heutigen Sehgewohnheiten entspricht". Man muss nur mal einen Actionfilm von heute mit einem aus den Achtzigern vergleichen, von Videos für Musik mal ganz zu schweigen.

Ich muss dazu sagen, dass ich dem auch manchmal erliege und mein MP3 Spieler mich bei allen Wegen und Besorgungen begleitet wo ich mehr als 10 Minuten unterwegs bin. Immerhin komme ich im Urlaub noch ohne Internet, Computer und Telefon aus, was mich schon von einem Großteil der heutigen Abhängigen von modernen Kommunikationsmitteln unterscheidet.

Die Frage ist wir es dazu kommt: ist es ein Gesellschaftliches Phänomen oder eine Folge der Technik: Vor 20 Jahren gab es eben Nachrichten im Fernsehen und Zeitungen und kein Internet, erreichbar per Telefon war man wenn man in der Nähe des Telefons war, und nicht dauernd. Oder ist es eine Folge der Entmenschlichung der Arbeitswelt, die ja auch Menschen nur noch als Human Ressources ansieht und die müssen eben optimal ausgebeutet werden, bis sie ausgebrannt sind?

Was meint ihr dazu? 

8 thoughts on “Entschleunigung

  1. Kann das, was Du schreibst, nur bestaetigen. Firmen haben es immer extrem eilig und 2 Stunden ohne E-Mail geht gar nicht. Mache im Moment teilweise Systemadministration fuer ’ne Agentur, und als wir ein paar Domains umgestellt haben und dann 2 Stunden keine E-Mails versendet werden konnten, kam ein Anruf „Die tanzen im Dreieck“.

    Ich lese auch teilweise, dass z.B. Google Mail-User „empoert“ waren, weil Google Mail irgendwann mal 2 Stunden Offline war. Dem ist sogar ein eigener Abschnitt im Wikipedia-Artikel gewidmet: „On February 24, 2009 the Gmail service was offline for 2 hours and 30 minutes, preventing millions of users from accessing their accounts.“
    2 Stunden 30 Minuten keine E-Mail – Apokalypse ist nichts dagegen…

    Ist schon lustig… ich bin aber inzwischen geistig sowas von „entschleunigt“, dass solche Beschwerden meiner Kunden an mir komplett abprallen. Wenn ich hoere „Herr Alexander, unsere E-Mail-Konten funktionierten gestern nicht“, dann sag ich nur noch: „Echt?“ 🙂

    Mein Loesungsansatz, um in dieser Gesellschaft klarzukommen (ich bin auch noch dazu nicht sehr stressfest, was das ganze noch verschlimmert), ist sehr einfach: Moeglichst einfach leben, moeglichst wenig unsinnige Anschaffungen, also moeglichst wenig Geld ausgeben und dann nicht so viel verdienen muessen = weniger Stress.

    Materielle Dinge zu besitzen, die man nicht wirklich braucht, hat nur gravierende Nachteile…

  2. P.S.: Nochmal zum MP3-Player: Wenn ich meine Ruhe haben will, hoere ich „entschleunigte“ Musik und dann hilft der MP3-Player eigentlich eher, als zu schaden 🙂 Musik kann ja je nach Musikrichtung entschleunigen oder beschleunigen…

  3. Ich vermute, es hat mit der vielfach verbreiteten Oberflächlichkeit zu tun, die es heute gibt. Wenn aber immer weniger Wert auf Tiefgang gelegt wird, dann wird das Belanglose wichtiger. So Telefonate wie „Ich bin jetzt „da und da“ und komme in ca. 5 Minuten an“, wie man sie in Bussen und Bahnen oftmals hört, sind auch ein Zeichen dafür.
    Ansonsten gehör ich nicht zum Kreis derjenigen, die meinen, dauernd erreichbar sein zu müssen. Im Gegeteil: Es gibt Situationen, da will ich gar nicht erreichbar sein. Und dann erreicht man mich auch nicht.

    Meiner Ansicht nach spielt da die Entmenschlichung der Arbeitswelt ins allgemeine gesellschaftliche Leben hinein. Da ja viele für ihren Job ständig erreichbar sein müssen, (entweder weil sie sich für unentbehrlich halten, oder weil es von Vorgesetzten so verlangt wird) stehen sie ständig unter Strom. – Es könnte ja mal wer anrufen. Und wenn man dann noch meint, alles mögliche mitkriegen zu müssen und nichts verpassen will, macht man sich zusätzlichen Stress, der dann auch wieder aufs Arbeitsleben zurück wirkt.

    Zu Überstunden hab ich eine ganz spezielle Meinung: Wenn man von einer 40 Stunden Woche für Arbeiter und Angestellte ausgeht, dann sollte folgendes gelten: Aber der 40sten Arbeitsstunde werden 25% zusätzliche Steuern fällig, die für die Überstunden zu zahlen sind. Ab der 50. Überstunde werden diese zu 50% extra versteuert, und ab der 60. Überstunde zu 100%. Wenn das Gesetz würde, dann würden die Überstunden in manchen Branchen massiv zurück gehen.
    Bei Selbstständigen ist es wahrscheinlich nicht ganz so einfach, aber wenn die sich in den Kreis ihrer Angestellten einreihen, dann sollte das ähnlich funktionieren können.

  4. Mit Bewunderung habe ich neulich beim Zappen im TV eine Reportage über aussterbende Handwerkerspezies gesehen. Da war ein über 80jähriger Schreiner irgendwo in Bayern, der hat in liebevoller Handarbeit einen prachtvollen Pferdeschlitten gezimmert. Ohne CNC-Maschinen, nur mit Muskelkraft, Intuition und ein paar Einfachst-Werkzeugen! Dann wurde der Schlitten per Trecker zu einem der letzten Dorfschmiede des ganzen Landes gefahren (ebenfalls über 80), und der hat in reiner Handarbeit die Kufen maßangefertigt. Über Steinkohlefeuer und am Amboß wie es sich gehört!

    Wir in unserer technokratischen Gesellschaft begeben uns in Gefahr, bald reihenweise zu verblöden. Viele Menschen sind für kreatives Handwerken gemacht, nicht für Leiharbeit und Facebook.
    Dieses Potential wird heute nicht mehr aufgefangen, Konsumgüter kommen als Massenprodukte aus China.

    Der Pferdeschlittenbauer ist vielleicht deswegen so alt geworden und so fit geblieben, weil er zeitlebens eine sinnvolle, erfüllende Aufgabe hatte.

    Er lebte noch in einer entschleunigten Welt, im Real Life.

  5. Nein, mein Beitrag hat ein noch viel teiferes Potential, wir mir gerade bewußt. Dieser Mann aus der Reportage arbeitet noch bis ins hohe Alter produktiv, vermutlich bis kurz vor seinen Tod. Er bringt sich ein, er lebt seine Arbeit, seine Tätigkeit ist sein Leben.

    In der heutigen Arbeitswelt haben wir schon lange eine Entfremdung des Menschen von der Arbeit. Man sehnt sich frühzeitig den Renteneintritt herbei, Gewerkschaften werben für Frührente/Vorruhestand.

    Doch der Mensch ist dazu gemacht, etwas zu erschaffen. Der Mensch muß eine Aufgabe haben, er muß stolz darauf sein, daß seine Tätigkeit gefragt ist.

    Dieser Aspekt ist völlig verlorengegangen in unserer anonymen Rentenkassen-Welt. Die Menschen lechzen nach Ausstieg aus dem hektischen Moloch „Arbeit“ um dann durch ungesunde Lebensweise bedingt, die 20 restlichen Lebensjahre dahinzusiechen mit horrende Medikamenten- und Behandlungsaufwand. Für viele ein Jahrzehnt unter KZ-änlichen Bedingungen in der „Seniorenresidenz“.

    Das ist der völlig falsche Ansatz und das wird noch mal zur demographischen Katastrophe führen. Alte werden heutzutage regelrecht als „Last“ der Jungen herangezüchtet um dann als 30jähriger Pflegefall gepampert zu werden.

    Der Mensch braucht eine Aufgabe, für die er gefragt ist und sich gefragt fühlt. Bis zu seinem Tod. Das ist Lebenselixier.

    So wie der 80jährige Schlittenbauer, der fasziniert mich so! Und was für eine Ruhe der ausgestrahlt hat als er seine Arbeit erklärt hat! Oder meine Uroma, die ist über 80 geworden ohne jede ärztliche Behandlung weil sie am Hof gebraucht wurde, das Vieh versorgen u.s.w. Wäre der Tumor damals entfernt worden, wäre sie über 100 geworden. Aber sie hat sich halt geschämt weil der Tumor im Unterleib war und ist dann halt gestorben. (vor ca. 35 Jahren)

  6. @Verkehrsvision P.S.: Nein, ich finde Deinen Beitrag hier natuerlich durchaus interessant und Du hast mit allem Recht… ich musste nur schmunzeln, als Du am Anfang des Kommentars ueber die guten alten Zeiten geschwaermt hast und ich gerade vorher Deinen Beschwerdebrief ueber meinen Fax-ist-besser-als-E-Mail-Blog gelesen hatte 😉

  7. Ich bin seit Anbeginn im Netz, habe schon lange kein Fax mehr, keinen Anrufbeantworter und kein Handy.
    Nur Festnetz und diverse mailboxen.
    Geht.

    Dieser Erreichbarkeits-Fimmel würde mich wahnsinnig machen.

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