Kann man die ISS mit einem ATV deorbitieren?

Bei der Recherche, über mein derzeit in Bearbeitung befindliches Buch, über das ATV bin ich auf eine Meldung gestoßen, dass die NASA überlegt, am Ende der ISS Lebensdauer eines oder zwei ATV zu kaufen, um sie zu deorbitieren. Das ist sicher nicht mehr als ein Gedankenspiel. Zum einen weil die ISS ja noch nicht mal fertig ist, und selbst dann noch mindestens bis 2016/7 betrieben wird, inzwischen denkt auch die NASA an einen Betrieb bis 2020.

Tatsache ist: Das ATV ist der Transporter, der am meisten Treibstoff mitführen kann. Auch die zu entwickelnden Dragon und Cygnus Raumschiffe werden erheblich leichter sein und die bemannte Orion Kapsel hat auch nicht die nötigen Treibstoffvorräte. Die Mir wurde mit einem Progress Raumschiff deorbitiert, doch es gibt zwei wichtige Unterscheide zwischen der Mir/Progress und ISS/ATV

  • Die Mir wog 124 t – Die ISS nach derzeitigen Planungen 420 t. Man benötigt also etwa die 3.4 fache Treibstoffmenge.
  • Das Progress hat 3 kN Schub und kann seine 2 t Treibstoff (mit Vorräten für das Ablegen und den Wiedereintritt die nicht mehr benötigt werden)  in 2000 Sekunden verbrennen, das ist kurz genug, um die  Bahn einseitig abzusenken, d.h. eine kreisförmige in eine elliptische zu verwandeln.

Vereinfacht gesagt: Zum Deorbitieren muss man nicht die ganze ISS auf eine Bahnhöhe von 120-130 km bringen, wo sie dann durch die Luftreibung verglüht. Es würde reichen eine elliptische Bahn von 130 x 400 km Höhe zu erreichen. Der Treibstoffbedarf ist dafür natürlich kleiner, als die Bahn von 400 auf 130 km abzusenken. Das ist sogar von Vorteil, weil man so viel einfacher den Wiedereintritt kontrollieren kann, als wenn die Station laufend in niedriger Höhe weiter abgebremst wird.

  • Konkret berechnet: Absenken einer Bahn von 400 km Höhe (kreisförmig) auf 400 x 130 km (elliptisch) erfordert eine Abbremsung um 78.3 m/s.
  • Abbremsung von 400 km (kreisförmig) auf 130 km (kreisförmig) erfordert 157.3 m/s.

Das ganze sind Minimalanforderungen, denn das wichtige ist ja, dass sie ISS gezielt verglüht. Das erreicht man, indem man den erdnächsten Punkt über einem weitgehend unbewohntem Gebiet (oft und gerne benutzt wird dazu der Südpazifik) legt und dieser nochmals deutlich tiefer als 130 km liegt.

Hätte das ATV einen sehr schubstarken Antrieb so wäre das kein Problem: Eine Zündung 180 Grad von dieser Positionn entfernt wurde (bei genügend Treibstoff) ausreichen den Punkt so abzusenken. Doch das ATV hat nur 4 Triebwerke mit je 490 N Schub. Diese müssten fast 10 Stunden arbeiten um die ISS um 160 m/s abzubremsen – In dieser Zeit hat die ISS aber fast 5 Umläufe absolviert – das läuft dann auf eine langsame Absenkung der Bahn heraus – Mit höherem Treibstoffverbrauch.

Hat ein ATV überhaupt genug Treibstoff an Bord dafür ?

Die internen Treibstoffvorräte des ATV umfassen 6760 kg plus 860 kg zum Nachfüllen der ISS. Das reicht gerade mal um die Station um 50 m/s zu verlangsamen. In der Realität sind es weniger, weil das ATV ja selbst auch noch Treibstoff braucht  um zur ISS zu gelangen und abzudocken (von den 6760 kg Treibstoff sind bei einer normalen ATV Mission 2613 kg dafür vorgesehen).

Ein ATV reicht also nicht aus. Mindestens zwei müssten es sein.

Wie würde die Deorbitierung der ISS ablaufen?

Nun vielleicht so:

  • Das erste ATV startet zur ISS, pumpt seinen Treibstoff um ins Sarja Modul. Nun zündet es bei jedem Umlauf im Apogäum den Antrieb gegen die Flugrichtung. Bei angenommenen 5 t Treibstoffverbrauch wäre die ISS nun in einer 280 x 400 km Bahn.
  • Nun kommt das zweite ATV, pumpt ebenfalls zuerst seine 860 kg Treibstoff um. Es wiederholt sich das Spiel. Diesmal mit 5.5 t Treibstoffverbrauch (das ATV braucht weniger um die ISS zu erreichen und keinen Treibstoff um zu deorbitieren). Das resultiert in einer 153 x 400 km Bahn.
  • Zuletzt würde Sarja nun noch die knapp 1.7 t Treibstoff verbrennen, die in den Tanks sind. Das würde ausreichen um den erdnächsten Punkt bis auf 110 km abzusenken. (Sarja hat leistungsfähigere Triebwerke als das ATV)

Das ganze hat nur einen Haken: Alles geschieht nicht auf einmal. Damit das ATV 5.5 t Treibstoff verbraucht müssen die Triebwerke 140 Minuten lang arbeiten. Also wenn man sie jeweils 10 Minuten lang im erdfernsten Punkt betreibt dann zieht sich das über 14 Orbits oder mehr als einen Tag hin, und bei den letzten Orbits ist dann die ISS mit 150 km Höhe schon recht nah an der Erde. Die Gefahr ist also sehr groß, dass die ISS dann unkontrolliert abstürzt.

Optimal ist das ATV nicht zum Deorbitieren der ISS. Was wäre eine optimale Lösung? Nun erstmal bräuchte man mehr Schub. Das kann man erreichen, indem das Aestus Triebwerk zusätzlich eingebaut wird. Dann muss die Treibstoffzuladung erhöht werden. Der ICC müsste weitgehend entfallen und nur der Ankopplungsteil übrig bleiben und dafür das Service Modul vergrößert werden. Der ICC wiegt etwa 5 t. Wenn er auf 1 t abgespeckt werden kann und nur noch Treibstoff befördert werden muss, dann kann das Leergewicht des ATV von etwa 10.5 auf 7.5 t sinken. Entsprechend können dann 13 t Treibstoff zugeladen werden. Zusammen mit dem etwas höheren spezifischen Impuls des Aestus Triebwerks reicht dies aus, die ISS mit einem ATV zu deorbitieren. Das Aestus Triebwerk muss dazu nur etwa 1460 Sekunden arbeiten. Mit zwei Zündungen über zwei Orbits wäre die ISs sicher versenkt.

Die Überlegung beruhe auf einem Standardorbit der ISS – natürlich würde man beim Deorbitieren die ISS absinken lassen. Den Treibstoff dafür braucht man dann schon nicht. Doch dem sind Grenzen gesetzt: Sinkt die ISS ab, so ist das eine Spirale, das Absinken wird rasch beschleunigt. Sehr schnell wird dann die Zeit knapp in der man die Station gezielt deorbitieren kann. Die ISS sinkt jetzt schon erheblich schneller ab als Skylab oder Mir, die in der gleichen Bahnhöhe waren. Das liegt an den großen Solarzellenflügel die 84 kW Leistung liefern. Ohne Eingriff würde die ISS in 2 Jahren verglühen – Bei Skylab waren es noch 6 Jahre.

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